Alles hängt am Seitenfaden

von SIEGFRIED PIONTKOWSKI aus Magazin Segelfliegen 2/2009

Segelflugzeuge haben im Allgemeinen kein Überziehwarnsystem, doch gerade sie könnten eins gebrauchen, da im Segelflug sehr häufig sehr langsam geflogen wird. Da die Geschwindigkeit alleine aber nur bedingt ein Hinweis für das Überziehen ist (denn auch die vertikale Beschleunigung hat einen Einfluss), ist es sinnvoll den Anstellwinkel zu messen. Es ist erstaunlich, wie wenig der Seitenfaden in den meisten Lehrbüchern vorkommt, geschweige denn erwähnt oder beschrieben wird.

Das Messen des Anstellwinkels kann man recht einfach mit einem Wollfaden realisieren. Er wird an die linke Seite der Haube, etwa 5 cm oberhalb des Rahmens geklebt und sollte ca. 3o cm lang sein. Markiert man sich die Lage dieses Fadens bei derGeschwindigkeit des besten Gleitens, dann hat man eine deutliche Anstellwinkelanzeige beim Kurbeln, im Windenstart und für das Setzen der Wölbklappen. Vorteil:
Der Faden zeigt unter Einschluss aller Überzieh-Faktoren wie Fahrt, Fluggewicht, Schleppseilzug, Beschleunigungskräfte (durch Kurvenflug oder Abfangen) sowie Windsprünge den Anstellwinkel an, mit dem das Flugzeug augenblicklich fliegt. Zeichnet man sich auch noch den Bereich des Strömungsabrisses ein, hat der Pilot ein hervorragendes Überziehwarngerät in Form des Seitenfadens, auf den nachfolgend ausführlich eingegangen wird.

Was ist der Seitenfaden?

 Der Seitenfaden an der Haube seitlich angebracht zeigt mir den momentanen Anstellwinkel am Tragwerk des fliegenden Flugzeuges an, den die strömende Luft beim Auftreffen auf die Flügelnase, bezogen auf die Profilsehne, einnimmt. Er ist also ein universaler Anstellwinkelanzeiger. Der Anstellwinkel kann sich durch innere Einflüsse (Pilotensteuerung) oder äußere Einflüsse (vertikale und horizontale Luftbewegungen) ständig ändern. Das Fliegen ist also ein ständiges Regeln zwischen inneren und äußeren Einflüssen, um einen stationären Flugzustand zu erreichen. Dies gilt für alle Flugzustände, sei es gerade aus oder in der Kurve, am Windenseil und bei der Landung und mit hohen oder niedrigen Flächenbelastungen und auch in allen Flughöhen.
Dies gilt aber auch gleichermaßen für die Grenzbereiche des Fliegens, nämlich zu langsam oder zu schnell.
Fliege ich zu langsam, falle ich runter und das Flugzeug wird am Boden zerstört. Fliege ich zu schnell, dann zerreißt es das Flugzeug in der Luft.
Der Funktionsbereich liegt bei den meisten Profilen zwischen +15 Grad und -5 Grad, gemessen wird zwischen Strömungsrichtung der Luft und der Flügelsehne des Profils. Beim Rückenflug reicht er bis -10 Grad (siehe auch Lilienthalpolare).

Was kann der Seitenfaden?

Er liefert mir Informationen über den Flugzustand meines Flugzeuges. Wenn ich mich immer im Funktionsbereich des Anstellwinkels bewege, kann das Flugzeug nicht abstürzen. Er liefert mir also gute Informationen, die ich verarbeiten muss. Er kann viel, aber richtige Schlüsse ziehen und richtig handeln muss der Pilot.

Welchen Nutzen hat der Seitenfaden?

  • Er kann mich vor einen Absturz bewahren.
  • Er kann meinen Flugstil verbessern.
  • Er kann auf meine Fehler aufmerksam machen
  • Er kann Fehlerketten durchbrechen bei einem sich anbahnenden Unfall.

Das geht aber nur, wenn ich ihn wahrnehme und ihn richtig interpretiere und danach auch die richtigen Korrekturen vornehme. Der Pilot bestimmt also über den Nutzen des Seitenfadens.

Wo muss er hin?

Er muss im Sichtbereich seitlich an der Haube außen angebracht werden. Schon beim ersten Flug nach dem Eichen kann er ausprobiert werden.
Ideal wäre auf der Längsachse, geht nur bei großen Hauben, er muss ja sichtbar sein. Eine gute Position ist ca. 3o cm vor dem Schiebefenster. Man kann ihn lösen, wenn er eingeklemmt wird.
Die Grafik sollte innen gezeichnet nicht fehlen, denn sie erleichtert das Erkennen der sich anbahnenden Gefahr.

Beschreibung

Die Verfahrensbeschreibung des Auftriebsmessers (Anstellwinkelmesser) findet man auch in Helmut Reichmanns „Streckensegelflug” auf den Seiten 205 und 186 als Bild in der 5. Auflage von 1982 und in allen Streckenflugausgaben, nur an anderer Stelle. Worin liegt also der Nutzen dieses Anstellwinkelanzeigers?
Er liegt in der klaren Früherkennung und Aufdeckung von ungünstigen aerodynamischen Steuerungsgewohnheiten und der Anzeige des Gefahrenbereiches des Strömungsabrisses. Bei richtiger Anwendung dient er der Optimierung des Leistungsfliegens und sollte in der Ausbildung ein fester Bestandteil sein und an keinem Schulflugzeug fehlen.

Für den Testpiloten

Der Seitenfaden arbeitet lage- und massenunabhängig. Er hat also die Fehler nicht, die im Reichmann beschrieben sind. Der große Nutzen liegt in der Früherkennung des Strömungsabrisses in allen Fluglagen und Flughöhen, sei es im Windenstart oder mit hoher Flächenbelastung, im Kurvenflug oder im Abfangradius und bei Mückenbesatz oder Regen und bei allen Wölbklappenstellungen. Der Strömungsabriss ist bei allen Wölbklappenstellungen an der gleichen Stelle, nur die Geschwindigkeiten sind unterschiedlich.
Der Auftriebsmesser (Anstellwinkelanzeiger) ist also keine neue Erfindung, sondern die Vereinfachung des immer noch gültigen Röhrchensystems hin zum simplen Fadenanzeiger am Haubenglas im Sichtbereich des Piloten. Für jedermann: Früherkennung heißt also: wenn ich so weiter mache, komme ich in den Strömungsabriss. Der Seitenfaden zeigt mir damit direkt die Fehler an, die ich machen werde. Er ist also ein optischer Überziehwarner und zeigt den drohenden Strömungsabriss vorher an. Er wird es nicht sein, wenn ich ihn ignoriere.

Für den Überlandflieger

Mit Wölbklappe ist der Seitenfaden zudem noch ein Anzeiger für falsche Wölbklappenstellungen beim Vorfliegen. Wenn der Faden nicht auf der Bestesgleitenlinie liegt, fliege ich mit zu großem Widerstand. Entweder ich verringere die Geschwindigkeit oder ich stelle die richtige Wölbklappenstellung ein.
In der Thermik kann ich, je nach Ausprägung des Aufwindes, mit maximalem Auftrieb oder mit dem geringsten Sinken fliegen. Bleibe ich immer unter der Schraffur, dann komme ich nicht in den Strömungsabriss. Denn Strömungsabriss kann zum Abkippen führen und bringt immer schlechtes Steigen.

Für den Schüler und den alten Hasen

Hier ist der Seitenfaden ein Hilfsmittel zur Kontrolle des Steigwinkels am Windenseil. Nutzt man hierbei noch den Maximalauftrieb (nicht gleich Maximalanstellwinkel), dann optimiert man gefahrlos den Windenstart und erreicht ungewohnte Höhen. Auch das Fliegen ohne Instrumentenanzeige kann sehr gut geübt werden. Bei regennassen Flächen oder und starkem Mückenbesatz verschiebt sich der Sicherheitsbereich um ca. 2-5 Grad nach unten. Kann in der Haubengrafik ein weiterer roter gestrichelter Strich sein. Auch hier gilt:
Bleibe ich immer deutlich unter der Schraffur, dann komme ich nicht in den Strömungsabriss am Windenseil. Denn der Strömungsabriss kann zum Abkippen führen, bringt immer schlechtes Steigen und ist im Windenstart extrem gefährlich.
Nachteil: Starke Schiebewinkel verfälschen je nach Richtung den Sicherheitsbereich der Anzeige ins Positive oder Negative. Der Anstellwinkel des Segelflugzeuges ändert sich dabei nicht. Wenn der Seitenfaden rechts angebracht ist und ich nach links schiebe, dann zeigt der Faden den Strömungsabriss zu spät an. Beim Schieben entsteht auch eine mehr oder weniger starke Schiebeströmung im Seitenfadenbereich, in diesem Beispiel nach unten. Der Schiebefehler ist auf der Bestgleitlinie gering und an der Schraffur am größten. Abhilfe kann ein Faden links und rechts bringen, dann Interpolieren oder nicht schieben.
Hinweis: Die Geschwindigkeitsangaben in der Grafik sind nur zur Orientierung und des Verständnisses eingetragen und dienen zur Eichung im Geradeausflug. Sie sind in keinem Falle an der Haube anzubringen!!
Der 5-Grad-Strich ist der empfohlene Landeanfluganstellwinkel. Kann also auch das gelbe Dreieck sein und ist auch das geringste Sinken. Die ungefähre Ablesung der Anzeige reicht vollkommen für die Optimierung und Orientierung aus. Denn es gilt:
Ungefähr richtig ist besser als genau falsch.

Eichung

Flugzeug mit 7o-90 kg Pilotengewicht ohne Wasserballast. Den 25-3o cm langen Wollfaden im Sichtbereich des Piloten außen seitlich ankleben. Im Fluge in den Langsamflug gehen (aus Handbuch, in der Regel 65-70 km/h. Kurz vorm Schütteln eine Markierung im Haubeninneren am Ende des flatternden Fadens setzen. Am besten einen Klebepfeil.
Dann das beste Gleiten (aus Handbuch, in der Regel 100-110 km/h) fliegen und auch dort einen Klebepfeil setzen.
Als nächstes die Landeanfluggeschwindigkeit (aus Handbuch, in der Regel 80-85 km/h) fliegen und auch dort einen Klebepfeil setzen.
Die Manöverendgeschwindigkeit (aus Handbuch, in der Regel 150-180 km/h) fliegen und eine Marke setzen. Nach der Landung die Linien der Grafik auf der Innenseite des Haubenglases mittels eines Tuschestiftes auftragen. Die Tusche sollte wasserfest sein.

Anmerkung

Durch den Lupeneffekt der Rumpfströmung ist die Seitenfaden-Winkelanzeige größer als der Anstellwinkel an der Fläche. Das kann je nach Anbringungsort bis zu 50% mehr sein. Also bitte nicht die Grafik mit dem Winkelmesser anzeichnen.
Und jetzt: Viel Freude bei der Ergründung der theoretischen Grundlagen und des praktischen Ausprobierens und darüber hinaus auch bei der Weitergabe dieses tollen Sicherheitsanzeigers an geneigte und ungeneigte Segelflieger.